„Willkommen bei den Pappsammlern von Villa Crespo!“ Das war der erste Satz, den Coco mir vor vier Jahren aus dem Nichts entgegenschmetterte. Und mich damit erstmal zu Tode erschreckt hat. Dabei ist er einer der inspirierendsten Menschen, die ich in Buenos Aires kennenlernen durfte.
Ich habe euch schon von Coco erzählt. Vor vier Jahren stand ich mit meiner Kamera vor einer seltsamen Statue neben seiner Hofeinfahrt. Ein Pferd, zusammengebaut aus Schrott, das sich aus der Frontscheibe eines demolierten Autos aufbäumte. Sein metallischer Reiter hielt eine leere Bierflasche in der Hand, bereit, sie auf die nächste Person zu schmeißen, die vor ihm die Straße überquert. Klar, dass man davor erstmal stehen bleibt.
Als Coco uns ansprach… oder eher gesagt diese showreife Begrüßung hinlegte… war mein erster Gedanke: “Okay, das war´s. Jetzt lande ich in irgendeinem Hinterhof und werde um meine Kamera und meine Wertsachen erleichtert!” Als er meinte: „Kommt rein, kommt rein, ich zeige euch alles,“ war ich erstmal ziemlich misstrauisch. Schließlich hat mir meine Mama beigebracht, nicht mit Fremden mitzugehen. Aber am Ende hat meine Neugier gesiegt.
Coco ist Cartoñero, ein Pappsammler, obwohl er sich heute lieber als Reciclador, als Recycler, bezeichnet. Cartoñeros sammeln recycelbare Materialien aus dem Müll in den Straßen von Buenos Aires. Als Argentinien 2001 in eine Finanzkrise stürzte, landeten viele Menschen der Mittelschicht und der Arbeiterklasse in der Armut. Ohne funktionierendes Sozialsystem mussten sie einen Plan entwickeln, um ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Die Lösung für Coco und seine Cooperativa El CorreCamino: Karton, Plastik, Glas und Metall. Für jedes Kilo dieser Materialien erhalten sie Geld von der Recycling-Station. Die Preise variieren, wirklich hoch sind sie nie, aber für Coco und die Mitglieder seiner Cooperativa war klar, dass sie zusammenarbeiten und sich gegenseitig helfen, statt vom Staat abhängig zu sein. Mittlerweile schafft seine Cooperativa Arbeit für 43 Familien.
Coco weiß, dass er und seine Truppe vor allem nachts nicht besonders vertrauenswürdig gewirkt haben. Das schummrige Licht der Straßenlaternen in manchen Vierteln trägt seinen Teil zu diesem Bild bei. Ein Satz von ihm, der mir vor vier Jahren am stärksten in Erinnerung geblieben ist: „Eine Handvoll Menschen, die nachts mit ihren Karren durch die Straßen ziehen, im Müll wühlen und sich die Kapuze tief ins Gesicht ziehen… mir ist schon klar, wie das wirkt. Wir wollten die Leute nicht erschrecken, wir haben uns geschämt.“
Deswegen erzählt er seine Geschichte jedem, der sich die Zeit nimmt, ihm zuzuhören. Um den Menschen die Angst zu nehmen und sich mit ihnen zu vernetzen. Danach läuft man um einiges entspannter durch die Straßen von Buenos Aires. Diejenigen, die einen ausrauben wollen könnten, sind definitiv nicht die Menschen, die sich mit dieser Arbeit ihr Geld verdienen.
Coco gibt keine klassischen Interviews. Sein Motto lautet: Du machst deine Arbeit und ich mache meine… und währenddessen unterhalten wir uns! Wenn du Buenos Aires also aus einer ganz anderen Perspektive kennenlernen möchtest, dann ist die Lösung ganz einfach: Du begleitest die Jungs bei ihrer Arbeit durch die halbe Stadt.
Die Karren sind mittlerweile zwei Transportern gewichen, mit dem sie den Müll direkt bei Firmen und Nachbarn abholen. Wir stoppen bei Fernsehsendern, Firmen, Parteibüros und Nachbarn in Villa Crespo und Palermo. Überall werden wir herzlich begrüßt. Man merkt, wie wichtig es ihm ist, die Beziehungen zu seinen Nachbarn zu pflegen. „Coco, ich habe dich im Fernsehen gesehen!“ „Warst du nicht letztens in der Zeitung?“ „Ihr werdet ja noch richtig berühmt!“
Es ist faszinierend, wie bescheiden seine Antworten auf solche Aussagen ausfallen. Wenn seine Idee durch all den Medientrubel mehr Menschen erreicht, die mit ihnen zusammenarbeiten wollen: gut. Wenn die Cooperativa wachsen und noch mehr Familien ernähren kann: sehr gut. Wenn ihr Beispiel zeigt, dass diese Arbeit würdevoll und wichtig ist und einen Ausweg aus Armut, Kriminalität und Drogen bietet: großartig. Der Medientrubel um seine Person lässt ihn ziemlich unbeeindruckt.
Coco kennt das Leben auf der Straße. Er hat seine Eltern nie kennengelernt und musste sich alleine durchschlagen. „Du darfst nicht zulassen, dass diese Erfahrung dich hart werden lässt. Du musst Alternativen suchen und mit deinem Beispiel zeigen, dass sie funktionieren! Ich habe mich selbst recycelt. Für mich ist Müll nichts Unangenehmes oder Schlechtes. Der Müll hat mich immer mit offenen Armen empfangen. Er hat mir immer Arbeit gegeben und mich und meine Familie ernährt.“
Zurück im Haus der Cooperativa setzen wir uns mit einem Mate vor seine Haustür. Gleich um die Ecke prangt ein riesiges Graffiti eines Cartoñeros auf der Hauswand, daneben gefühlte hundert Mal das Motto der Cooperativa „Tu basura es mi tesoro“ (Dein Müll ist mein Schatz). „Ich möchte, dass meine Kinder, meine Enkel und auch sonst niemand das gleiche Kreuz zu tragen hat, das ich getragen habe. Nicht nur das Verstoßenwerden, sondern auch fehlende Bildung oder andere Barrieren, die mir immer wieder Türen verschlossen haben. Ich versuche das Leben derjenigen zu verbessern, die in einem solchen Projekt arbeiten möchten!“
Ideen dafür hat er genug. Im Eingangsraum seines Hauses reihen sich alte Computer aneinander, die Nachbarn ihnen überlassen haben. Hier sollen bald die Kinder aus der Nachbarschaft lernen und spielen können. Zwei Häuser weiter wollen sie auf einem Grundstück einen Recyclinghof errichten, auf dem man seinen Müll persönlich abgeben und sortieren kann, um so noch mehr Arbeit für die Cooperativa zu schaffen. Außerdem setzt er sich in Zusammenarbeit mit verschiedensten Institutionen dafür ein, dass die Mitglieder der Cooperativa gesundheitliche Versorgung, bessere und sicherere Arbeitsbedingungen und Bildung erhalten.
Stillsitzen kann er jedenfalls nicht. Nach ein paar Minuten verschwindet er in seinem Zimmer, um kurz darauf mit einer Gitarre wieder aufzutauchen. Sie haben zusammen mit ein paar Musikern aus der Nachbarschaft ein Lied geschrieben, um es auf einer Gala zu singen, auf die sie mit ihrem Projekt eingeladen wurden. Kaum hat er die letzten Akkorde gespielt, fragt er: „Willst du ein bisschen mehr von unserem Viertel sehen?“ Und wie ich will.
Die Avenida Cordoba trennt das Viertel Villa Crespo von den schicken Vierteln Palermo Soho und Hollywood auf der anderen Seite. In Villa Crespo lassen sich nur ganz langsam Bars und Restaurants nieder. Das Viertel hat wunderschöne Häuser und Ecken, allerdings auch Orte, an denen man im Dunkeln als Tourist lieber noch nicht alleine vorbeilaufen möchte. Dafür wird Nachbarschaft hier groß geschrieben. Wir bleiben gefühlt alle zehn Meter stehen, um Leute auf der Straße zu grüßen.
Gleich um die Ecke der Cooperativa befindet sich das Gelände einer Buslinie, dessen Wände immer wieder neu von bekannten Street Art-Künstlern bemalt werden. Es ist auch einer der Spots auf der Nord-Tour von graffitimundo.
Wir drehen eine Runde um das Gelände und laufen dann in Richtung der Bahngleise, die zwei Blocks vom Haus der Cooperativa entfernt vorbeiführen. Coco lächelt und zeigt auf zwei kleine Plätze unterhalb einer Brücke: „Hier haben wir damals mit 80 Mann gewohnt, direkt neben den Gleisen!“ Ich versuche, mir diese Anzahl von Menschen auf diesem kleinen Raum vorzustellen.
„Lass uns was essen gehen!“ Wir sammeln seine Söhne Catriel und Cristian ein. Unser Ziel: das Caotica, einen Block von der Cooperativa entfernt. Die Parrilla ist bien del barrio, was übersetzt in etwa so viel wie ‚alteingesessen in der Nachbarschaft‘ bedeutet. Hier gibt es typisch argentinisches, hausgemachtes Essen. Pasta, Pizza und natürlich Asado, mit allem, was die argentinischen Grillkünste zu bieten haben.
Als Vegetarier muss ich hier leider passen, aber bei der selbstgemachten Pasta fällt das nicht allzu schwer. Natürlich kennt Coco auch hier den Besitzer. Er hat sie in schlechten Zeiten oft unterstützt. Jetzt gibt Coco ihm das gerne zurück, indem er das ‚Caotica‘ allen empfiehlt, die diesen Ort bisher nicht kannten.
Doch Cocos Lieblingsort ist und bleibt sein Haus der Cooperativa. Er will so viel Zeit wie möglich vor Ort sein. Falls jemand vorbeikommt, der mit ihnen zusammenarbeiten möchte. Oder mehr über das Projekt wissen will. Oder falls mal wieder eine Gringa vorbeiläuft, der er ein ‚Bienvenidos‘ entgegenschmettern kann.
Hallo Kris,
ich wohne selbst seit einem halben Jahr in Villa Crespo und kann nichts schlechtes darüber berichten. Wenn man allerdings die Av. Juan B. Justo überquert, hat Palermo genauso viele dunkle Ecken, an denen man sich nachts nicht rumtreiben sollte wie Villa Crespo. Meiner Meinung nach ist es eine schöne, ruhigere, sichere und vor allem günstigere Alternative zu Palermo.
Viele Grüße aus Buenos Aires
Hey Jully,
stimme ich dir voll zu. Aber wenn man sich nicht auskennt, kann es doch auf den ersten Blick an gewissen Ecken etwas einschüchternd wirken. Aber wie immer tragen die Leute einen Riesenanteil daran, dass man sich wohl fühlt